4.
Sollten Sie einmal die unscheinbarste Stadt
der Welt suchen, empfehle ich Ihnen Lamson in Texas. Eintönig und
schier endlos führt die Interstate 10 von El Paso nach San Antonio.
Jeder Punkt auf der Landkarte an dieser trostlosen Strecke markiert
etwas, das sich Stadt nennt, eine immer staubiger und
ausgestorbener als die vorhergehende. Ich, Laura Richie, weiß das,
denn ich lernte sie bei meinen Recherchen kennen. Lamson hat es
allerdings noch nicht einmal zu dem Punkt auf der Landkarte
gebracht. Lamsons schäbigste Unterkünfte befinden sich auf dein
Wohnwagen platz direkt neben der Straße.
Sharleen Smith sprang aus dem verbeulten gelben Schulbus, ging schnell ein Stück die Interstate 10 entlang und bog dann in eine von Unrat starrende Seitenstraße ein, die zu wahllos aufgestellten, altersschwachen Wohnwagen führte. Im Gehen zog sie das rote Band aus dem Haar, mit dem sie ihre langen, weißblonden Locken im Nacken zusammengebunden hatte.
Sharleen summte vergnügt vor sich hin, denn an diesem Tag vermochte sie nicht einmal der Anblick des nüchternen Blechwohnwagens, den sie mit ihrem Vater und Bruder bewohnte, zu deprimieren. Auch an die Gemeinheiten ihrer Klassenkameradinnen dachte sie nicht mehr, weil Boyd zu ihr hielt. Tatsächlich wußte sie nicht, warum die Mädchen sie hassten. Klar, sie war arm und nicht sonderlich schlau, dafür aber bildhübsch. Das hatte Momma ihr immer wieder gesagt. Momma wohnte allerdings schon lange nicht mehr hier.
»So ein Mist!« Sharleen hatte den betagten Kleinlastwagen ihres Vaters hinter dem Wohnwagen entdeckt. Eine Tür stand offen. Das deutete darauf hin, daß Sharleens Vater wieder getrunken hatte. Sie seufzte. In Lamson, Texas, änderte sich eben nie etwas. Leise öffnete sie die Tür des Wohnwagens. Unter keinen Umständen wollte sie ihren Vater wecken und bete lautlos, daß er ihr den bevorstehenden Abend nicht durch seine Aggressivität verdarb.
Eine penetrante Mischung aus Körpergeruch und Bier schlug Sharleen entgegen, sobald sie in dem Wohnwagen stand. Zwar wusch und bügelte sie für Vater und Bruder gewissenhaft, doch sie schaffte es nicht, ihren Vater dazu zu bringen, daß er sich häufiger duschte und seine Kleidung wechselte. Glücklicherweise war es ganz still im Wagen. Das deutete darauf hin, daß der Vater sich bis zur Bewußtlosigkeit hatte volllaufen lassen. Sie roch nun auch verschütteten, billigen Bourbon. Den trank er nur, wenn er eine besonders schlimme Sauftour hinter sich hatte.
Sharleen war froh, mit niemandem sprechen zu müssen. Dean, ihr Bruder, half nach der Schule in einem Geschäft für Futtermittel aus. In aller Eile zog sie sich aus und schlich zum Badezimmer, um die seltenen Minuten zu genießen, in denen sie ungestört war. Vorher allerdings drückte sie noch einmal das Ohr an die Tür, hinter der ihr Vater schlief. Sie nickte befriedigt. Er schlief fest und schnarchte.
Sie zog die Tür des winzigen Badezimmers hinter sich zu und bedauerte nicht zum erstenmal, daß das Schloß nicht funktionierte. Ein Privatleben besaß Sharleen nämlich nicht.
Obwohl Dean eigentlich das Schlafzimmer mit dem Vater teilen sollte, schlief er meist bei Sharleen auf der Schlafcouch im Wohnzimmer. Das störte Sharleen nicht. Tatsächlich hätte sie sich jetzt sicherer gefühlt, wäre Dean dagewesen, denn er hätte den Vater abgelenkt, solange sie duschte. Sie drehte im Bad den Wasserhahn auf. Hoffnungsvoll. Nicht immer lief das Wasser. Der Brunnen auf Lamsons Wohnwagenplatz trocknete mitunter aus, oder die Pumpen funktionierten nicht. Diesmal hatte Sharleen Glück. Sie regulierte die Temperatur, zog den billigen Plastikvorhang zu und stellte sich unter den Strahl.
Ihr Haar wurde dunkel vor Nässe. Das Wasser rann über ihre Brüste und verhärtete die Brustwarzen. Langsam und mit geschlossenen Augen drehte sie sich um die eigene Achse. Sie fühlte, wie das Wasser auf ihrem Körper die langen, wohlgeformten Beine hinunter bis zu den Füßen rann. Das tat gut! Ich bin zwar nicht klug oder reich oder jemand Wichtiges, aber ich danke dem Herrn, weil ich hübsch bin. Weil ich hübsch bin, hat mich Boyd gern.
Sharleen kam auf ihre Momma heraus. Die war auch hübsch. Männer mochten Momma. Alle eigentlich, außer Daddy.
Sharleen wußte noch genau wie Momma aussah. Ein Bild besaß Sharleen jedoch nicht. Wenn sie an die vergangene Zeit dachte, wurde sie traurig. Sie erinnerte sich noch, wie sie sich mit Dean unter dem Wohnwagen versteckt hatte, während über ihnen Daddy ihre Momma verprügelte. Sie kannten die Geräusche, sie wußten auch, was sie hinterher zu sehen bekommen würden.
Sharleen dachte an den letzten Streit. Momma kam müde von der Wäscherei, in der sie arbeitete, heim. Das Haar hatte sie unter einem Haarnetz hochgesteckt. Kleine Strähnen ringelten sich schweißfeucht über ihre Schläfen. Sie trug ihre rosa Uniform und verschlissene Tennisschuhe, in denen sie täglich die fünf Kilometer zwischen Wäscherei und Wohnwagen zurücklegte. In einem Plastikbeutel hatte sie ihre weißen Schuhe, die sie jeden Morgen sorgfältig putzte und nur in der Wäscherei anzog. Als Dean Momma den winzigen Welpen zeigte, den er an diesem Tag gefunden hatte und zärtlich an sich drückte, lächelte Momma trotz ihrer Müdigkeit.
Bis Daddy nach Haus kam...
Sharleen summte unter dem Wasserstrahl vor sich hin. Das Wasser fühlte sich so tröstlich an wie Deans Hand, wenn er ihr in seiner ruhigen Art über das Haar strich. Den Tag mit dem Welpen empfand Sharleen auch jetzt noch wie einen Alptraum. Dean und Sharleen hatten sich verängstigt im Rhythmus mit ihrem Atem unter dem Wohnwagen gewiegt, während über ihnen der Streit ihrer Eltern tobte. Sharleen glaubte noch jetzt Deans warmen Körper an ihrem zu fühlen. Dean hatte seine Hand auf ihre geheimste Stelle gelegt und sie dort gelassen. Ihr wiegender Rhythmus hatte ihnen beiden ein Stöhnen entlockt. So schienen die Geräusche aus dem Wohnwagen in immer weitere Ferne zu rücken.
Sie hatten die Nacht unter dem Wohnwagen verbracht. Irgendwann hörte auch das Schreien über ihnen auf. Doch die Stille war beängstigend.
Sharleen erinnerte sich an den letzten gemeinsamen Morgen. Momma hatte sich auf die Suche nach ihnen gemacht. »Sharleen, Dean! Seid ihr irgendwo?« hatte sie geflüstert.
»Wir sind hier, Momma. Dean, komm schon.« Sie krochen unter dem Wohnwagen hervor und klopften sich den Schmutz von den Kleidern. Mommas eine Gesichtshälfte war rot und geschwollen. Das rechte Auge hatte sich schwarzblau verfärbt, das andere war völlig geschlossen.
»Geh dich waschen, Dean, aber sei leise«, verlangte Sharleen. »Weck ihn bloß nicht auf.«
Nachdem Dean im Bad war, legte Sharleen eine Hand auf Mommas Gesicht. Die zuckte zusammen und wich zurück. Noch nie zuvor hatte Momma so schlimm ausgesehen.
»Momma, diesmal ist es Zeit, daß wir dich ins Krankenhaus bringen.«
»Nein, Liebes. Es tut weh, aber Gott wird sich schon um mich und den kleinen Hund kümmern.« Momma zog eine Schuhschachtel unter der Couch hervor. Darin lag der Welpe. Tot. Sharleen brauchte keine Fragen zu stellen.
Momma und Sharleen knieten vor dem Karton. Dean kam hinzu. Seine Augen wurden groß und immer größer.
»Schläft er?« fragte Dean.
»Nein, Dean. Er ist jetzt im Himmel.«
Nach dem Frühstück, das nur aus Cornflakes ohne Milch bestand, begleitete Momma Sharleen und Dean zu der Haltestelle des Schulbusses. Sharleen fiel auf, daß ihre Mutter ihr bestes Kleid trug. Hellblau mit einem weißen Kragen. Sie hatte auch einen Pappkarton dabei. Da begriff Sharleen, daß jetzt ein neuer Lebensabschnitt begann. Schlimmer konnte es allerdings nicht werden. Dean ging ihnen ein Stück voraus. Er litt unter dem Tod des Welpen. Und Momma nutzte die Gelegenheit, ein ernsthaftes Gespräch mit Sharleen zu führen.
»Sharleen, Liebes, deine Momma muß jetzt erst einmal für eine Zeit fortgehen. Ich kann euch beide nicht mitnehmen. Aber ich hole euch, sobald ich einen Job und eine Bleibe für uns gefunden habe. Du weißt, daß du nicht meine leibliche Tochter bist, aber ich liebe dich wie mein eigen Fleisch und Blut. Dean ist mein Sohn, dein Halbbruder. Hab ihn lieb wie eine Schwester.« Sie gab Sharleen eine kleine Bibel. »Behalte die, bis ich wiederkomme. Nein, Liebes, wein' nicht. Du mußt stark sein. Gott hält seine Hand über uns. Sprich mit dem Herrn, dann hilft ER dir.« Sie machte eine Pause. Sharleen ahnte, daß ihr das Sprechen Schmerzen bereitete. »Versprich mir, dich um Dean zu kümmern. Er ist nicht so hell wie du.«
Sharleen hörte schweigend zu. Was hätte sie auch sagen sollen? Wer konnte ihrer Mutter einen Vorwurf daraus machen, daß sie die Schläge nicht länger einsteckte? Momma hatte keine Wahl. Im Grunde war Sharleen froh, daß Momma fortgehen konnte. Und Sharleen dachte in ihrer Gutmütigkeit nicht darüber nach, daß ihr nun niemand mehr blieb, von Gott einmal abgesehen und von Dean. Und für Dean sollte Sharleen von nun an die Verantwortung tragen.
»Sag Dean noch nichts, Liebes. Erst am Abend vielleicht. Er soll sich nicht aufregen«, bat Momma.
Sharleen nickte. Sie dirigierte Dean im Schulbus zu den Rücksitzen. Von dort aus konnte sie noch einmal ihre Mutter sehen. Die zarte Frau hob die Hand. Sie winkte zweimal.
Dann ging sie schnell in die andere Richtung zu einem Bus, der sie in die Stadt bringen würde. Sharleen zwang sich, nicht in Tränen auszubrechen. Wenn sie erst zu weinen anfing, konnte sie wahrscheinlich nicht so schnell wieder damit aufhören. »Dean, ich werde von nun an für dich sorgen«, sagte sie ihm. Er schwieg erst, dann legte er den Kopf an ihre Schulter und schloß die Augen. »Es war ein so gutes Hundchen«, weinte er.
Das alles fiel Sharleen unter der Dusche wieder ein. Sie war so in Gedanken, daß sie nichts hörte. Plötzlich zerrte Daddy den Duschvorhang zurück. Sein übler Körpergeruch verbreitete sich.
»Was zum Teufel machst du da?« wetterte er. »Du hast mich geweckt. Bist du verrückt?«
Sharleen erschrak, wich in der winzigen Kabine zurück. Mit geübtem Blick schätzte sie den Zustand ihres Vaters ein. Er war betrunkener denn je. Vor acht Jahren hatte Momma sie verlassen. In all den Jahren hatte Daddy unmäßig getrunken. Dean und Sharleen gemein behandelt. Doch so benommen wie jetzt hatte er sich nie. Bitte, lieber Gott, hilf mir, dachte Sharleen.
»Ich bin sofort fertig, Daddy«, flüsterte sie. Sie quetschte sich an ihm vorbei, wickelte im Gehen ein Handtuch um sich und wollte ihre Kleidung erreichen. Doch er war schneller.
Sie fühlte seine Hand auf ihrem Kopf. Er zerrte sie an einem Haarbüschel in sein stickiges, widerliches Schlafzimmer. Das Handtuch fiel zu Boden.
Sharleen schrie entsetzt. Sie versuchte, sich am Kühlschrank festzuklammern. Doch Daddy gelang es, ihre Finger zu lösen.
Instinktiv ließ sie sich fallen. Statt locker zu lassen, zog er sie am Haar hoch. »Nicht, Daddy, nicht!« schrie sie.
Er brachte sie mit einem Schlag seiner breiten, schwieligen Hand in ihr Gesicht zum Schweigen. »Schluß damit, du kleine Hure. Ständig zeigst du dich in diesen enganliegenden Hosen und trägst das Haar aufreizend offen, wie eine sündige Jezebel.«
Er zerrte sie hinter sich her. Sie fiel wieder hin. Ihr Vater schleifte sie bis zum Fußende seines Bettes. Sharleen versuchte, das Laken als Schutz um sich zu ziehen. Doch blitzschnell packte er sie und legte sie über seine Knie.
»Dir werde ich schon noch Respekt vor mir beibringen, und wenn ich den in dich reinprügeln muß.« Das Gesicht nach unten, eingehüllt in den faulen Geruch des Zimmers, versuchte Sharleen alles, um dem Schoß des Betrunkenen zu entrinnen.
»Bitte, Daddy, nicht! Es tut mir ja leid.« Doch da schlug er sie schon mit aller Kraft auf den nackten Po. »Bitte!« schrie sie wieder. Er preßte ihren Kopf so fest auf die Matratze, daß sie kaum noch Luft bekam und schlug weiter.
»Schlampe! Hure! Wie deine Mutter. Mit wievielen Jungen hast du's schon getrieben? Mit Boyd und mit wem noch? Du elendes Miststück.« Er nahm eine ihrer längst wunden Pobacken in die Hand und zwickte sie grausam zusammen. Sharleen schrie vor Schmerz und Scham.
»Halt den Mund«, warnte er sie, ohne seine Prügelei zu unterbrechen. Sharleen schwieg tatsächlich. Irgendwann hörten die Schläge auf. Doch der Vater hielt Sharleen noch immer fest. Sie atmete flach.
Plötzlich durchfuhr sie eisiges Entsetzen. Die Hand ihres Vaters glitt zwischen ihren Beinen nach oben bis zu ihrer intimsten Stelle. Er riß ein Büschel Schamhaare aus. »Hast du die Jungen hier rangelassen?«
»Nein, Daddy«, würgte sie mühsam hervor.
Gnädig nahm er seine Hand fort. Doch aufatmen konnte Sharleen nicht. Denn er faßte nach ihrer rechten Brust, die ihm über das eine Knie hing. »Hast du sie deine Titten anfassen lassen?«
»Nein«, schrie sie wieder. Er quetschte die,Brustwarze fest zwischen Daumen und Zeigefinger ein. Der Schmerz durchfuhr Sharleen wie ein Messer.
»Wirklich nicht?«
»Bestimmt nicht!« schluchzte sie.
»Gut. Sonst bist du bald eine Hure wie alle anderen.« Er stand auf. Sharleen rollte nackt auf den Boden. Angeekelt sah er auf sie hinunter. »Schamloses Stück Dreck. Zieh dich an. Ich gehe.«
Sharleen stolperte aus dem engen Raum. Sie ging wieder unter die Dusche. Es gab kein heißes Wasser mehr, nur noch kaltes. Das merkte sie gar nicht. Sie stand unter dem kalten Strahl und wartete, daß er ihre Schmerzen linderte. Danach tupfte sie die geschundene Haut mit einem dünnen Handtuch ab. Gott sei Dank hat das Dean nicht miterlebt, dachte sei. Mit seinen sechzehn Jahren war er einsfünfundachtzig groß und hundertfünfundsechzig Pfund schwer. Er hätte versucht, es mit dem Vater aufzunehmen, und der hätte ihn getötet. Sharleen errötete vor Scham, als sie an die Hand ihres Vaters auf ihrem nackten Körper dachte. Am schlimmsten war gewesen, was sie an ihrem Bauch gefühlt hatte, während er sie schlug. Ihr Vater hatte zweifellos beabsichtigt, daß sie seine Erektion spürte. Nein, Dean durfte nie etwas von diesem Auftritt erfahren.
Mit den Händen strich sie über die Stirn, als könnte sie den abstoßenden Vorfall damit aus der Welt schaffen. Dann zog sie sich das an, was sie sorgfältig für diesen Abend vorbereitet hatte: Eine Bluse und einen Rock, frisch gebügelt. Ihre Hände zitterten, als sie die Lippen vor dem fleckigen Spiegel über dem Küchentisch schminkte. Eisern zwang sie sich jedoch, die Nerven zu behalten. Herr im Himmel, nimm mir nicht auch das noch, betete sie. Die ganze Woche hatte sie sich auf ihre Verabredung an diesem Abend gefreut.
Sharleen nahm den Hackbraten vom Vortag aus dem Kühlschrank, der vorwiegend aus Brot und kaum aus Fleisch bestand, schnitt zwei große Scheiben ab und legte sie in eine Auflaufform. Sie häufte den Rest des Kartoffelpürees darüber und eine kleine Dose Mais. Das deckte sie mit Alufolie ab und stellte die Form in den Backofen. Sie schrieb Dean auf, wie er sein Abendessen warmmachen mußte und daß sie auf einer Schulfete sei. Von Boyd oder einer Verabredung schrieb sie nichts.
Im Spiegel vergewisserte sie sich noch einmal, daß der Überfall ihres Vaters keine verräterische Spuren hinterlassen hatte. Danach wartete sie vor dem Wohnwagen auf Boyd.